Leseprobe Wann sollte operiert werden

Aus Kapitel 3: „Wann sollte operiert werden?“

 

Es wird zu viel operiert

Es wird zu viel operiert, nicht nur in Deutschland, wahrscheinlich in allen hochentwickelten westlichen Ländern. Einige Gründe führt der Kenner der Materie, Julius Hackethal, 1980 in seinem Buch „Operation – ja oder nein?“ an. Hackethal nennt sie „13 böse Operationsgründe“:

1. Lust des Arztes am Operieren, der Spaß am „Schnippeln“

2. der Zwang, im Training zu bleiben

3. die Pflicht, Krankenhausbetten zu füllen

4. die Vorschrift einer Mindestzahl von Operationen

5. der Ehrgeiz, ein großer Chirurg zu werden

6. der Drang zum Experimentieren, zum Erfinden

7. die Unkenntnis des Chirurgen über Möglichkeiten und Risiken einer Operation

8. die fehlende Zeit, über die Zweckmäßigkeit einer Operation nachzudenken

9. die Möglichkeit, mit Operationen Geld zu verdienen

10. die Sicherung des Nachschubs durch kollegiale Artigkeit

11. Irrtum über die Notwendigkeit einer Operation

12. Überschätzung des eigenen Könnens

13. die Tötung, die „Erlösung“ durch eine Operation

Ich will nicht all diese Gründe kommentieren. Einige Gründe sind sicher sehr scharf formuliert. Fakt ist aber, dass Hackethals Thesen heute noch gelten und wohl auch morgen noch gültig sein werden.

Die Lust am Operieren

Sicher sollte jeder Chirurg „Lust“ an seiner Arbeit haben. Das ist gut so. Aber seine Arbeit ist nicht nur das Operieren selbst. Das Drumherum ist genauso wichtig, manchmal sogar noch wichtiger.

In meiner Zeit als Chirurg einer großen Klinik habe ich dieses Gefühl der Lust am Arbeiten immer verspürt. Nur nach schmerzlichen Rückschlägen kamen Gedanken auf, den Beruf doch lieber zu wechseln. Nie war es aber ein wirklich ernsthafter Gedanke. Doch je länger ich in diesem Fach tätig war, desto sorgfältiger überlegte ich mir jeden Eingriff, fragte mich immer öfter: „Ist dieser Eingriff bei diesem Patienten notwendig und sinnvoll? Hat der Patient von der Operation einen Nützen?“ Ich kann nur jedem Anfänger der Chirurgie raten, sich diese Fragen immer wieder zu stellen, jeden Tag mindestens einmal.

Jeder Chirurgie-Anfänger freut sich auf einen Patienten mit Schmerzen im rechten Unterbauch, es könnte ja eine Blinddarmentzündung sein. „Vielleicht assistiert mir der Oberarzt diese Operation?“ So beginnt jeder Chirurgie-Lehrling seine Laufbahn. Bei mir war es genauso. Aber meine Einstellung hat sich mit der Zeit geändert.

Es ist viel schwieriger, einen mutmaßlichen Blinddarm-Patienten nicht zu operieren, und man muss sehr erfahren sein, um ein solches Risiko einzugehen. „Schnell einen Blinddarm rauszumachen“, ist da viel einfacher, aber nicht immer unbedingt besser. Ich schätze, dass 20 bis 40 Prozent aller Wurmfortsätze in unseren Kliniken unnötig operiert werden. Nur wenige Chirurgen geben eine solch hohe Rate an „Unschuldswürmern“ zu, und wenn, dann nur unter höchster Geheimhaltung. Unter einem „Unschuldswurm“ versteht der Chirurg einen Blinddarm, der eigentlich nicht krank war, keine Entzündungszeichen zeigte. Ein Blinddarm, den man besser nicht operiert hätte.

Doch eine unkomplizierte Blinddarmoperation dauert etwa 30 Minuten, manchmal geht es noch schneller. Einen Patienten nicht zu operieren, dauert sehr viel länger. Um den eventuellen Operationszeitpunkt nicht zu verpassen, muss man den Patienten sorgfältig untersuchen – nicht nur einmal, sondern auch in der Nacht, möglichst alle zwei bis vier Stunden. Den drohenden Durchbruch darf man natürlich nicht verpassen, auch nachts nicht. Wer wenig Erfahrung hat und/oder eine ruhige Nacht haben will, operiert eben, „sicher ist sicher“.

Die Pflicht, Betten zu füllen

Diese Pflicht wurzelt in den finanziellen Zwängen der Krankenhausleitung. Ein Krankenhaus mit schlechter Bettenauslastung müsste Personal abbauen; später droht sogar die Schließung. Das will natürlich niemand. Also heißt es Betten füllen. Denn nach dem heute noch gültigen Vergütungssystem stellt jedes belegte Bett eine Einnahmequelle dar, ein leeres Bett bringt nichts. Der Diensthabende wird mit der Aufnahme also sehr großzügig sein. Schuld an dieser misslichen Lage ist letztendlich nicht die Klinik, schon gar nicht der Arzt, sondern es ist ein Fehler im System.

Eine zweite Methode, um Betten zu füllen: Es werden Operationen vorgeschlagen, die unnötig sind. Bestes Beispiel sind kleine Hämorrhoidenknoten (Schwellkörper am Darmausgang). Es gibt Methoden, diese Knoten ambulant zu entfernen, ohne Narkose. Ein Eingriff, der nicht länger dauert als eine Minute. Ich kenne jedoch ein Krankenhaus, da werden solche kleinen Knoten grundsätzlich operiert, in Vollnarkose! Der Patient muss mindestens sieben Tage das Bett hüten. Die Bettenauslastung in diesem Krankenhaus ist sicher hervorragend, aber mindestens 80 Prozent dieser „Hämorrhoiden-Patienten“ sind schlicht belogen worden.

1998 wird über eine Studie des Bundesgesundheitsministeriums berichtet (Ch. Fischer und D. Hoeren in „Bild“ vom 16. Juni 1998), die zeigt, dass beispielsweise 60 Prozent aller Operationen wegen Zysten am Eierstock unnötig sind. Unnötige Operationen mit vielerlei Komplikationsmöglichkeiten, von Gefäßverletzungen über Darmläsionen bis hin zu Blutgerinnselbildungen mit fatalen Folgen.

Wenn eine 25jährige Patientin einen künstlichen Darmausgang bekommen muss, um ihr Leben nach einer solchen Operation an einer harmlosen Zyste zu retten, dürfte klar werden, dass unser Gesundheitswesen korrigiert werden muss.

Dennoch geht die Frage des Richters natürlich an den Operateur: War die Operation überhaupt indiziert, also notwendig? Die vielen Systemfehler entbinden uns nicht von unserer individuellen Verantwortung als Arzt.

Nicht nur Eierstockzysten werden unnötigerweise operiert. Auch die Gebärmutter wird bei vielen Patientinnen gnadenlos entfernt, aus den gleichen Gründen. In der Zeitschrift „Ärztliche Praxis“ Nummer 41 vom Mai 1996 erschien ein kleiner Artikel, der es bei genauer Betrachtung in sich hat. Titel: „Schlechte Chancen für deutsche Gebärmütter.“ Ein Zitat: „Jeder dritten Frau in Deutschland wird die Gebärmutter entfernt. Medizinisch notwendig sei dieser Eingriff nur in allerhöchstens 20 Prozent der Fälle…“ Diese Aussage macht eine Chefärztin aus Bad Salzuflen. Aus dem Artikel geht weiter hervor, dass Frauen aus der „normalen“ Bevölkerung doppelt so häufig an der Gebärmutter operiert werden wie Patientinnen aus Arztfamilien.

Ergo: Wenn nach der Zahl der Eingriffe abgerechnet wird, liegt die Häufigkeit der „notwendigen“ Operationen natürlich höher als in Ländern, die andere Abrechnungssysteme bevorzugen.

DetailsInhaltsverzeichnisBuch bestellen